Da war er wieder, der Tag der Wahrheit, denn die 42,195 km sind jedes Mal eine Herausforderung. Nicht nur für den Körper, sondern auch für den Geist. Das ist selbst dann so, wenn ich mich auf den Lauf freue. Und eines möchte ich gleich vorwegnehmen: die Organisatoren in Istanbul haben wieder ganze Arbeit geleistet, denn alle Abläufe haben hervorragend funktioniert. Das betraf in meinem Fall die Abholung der Startunterlagen, den Lauf selbst sowie die Zurückgabe der persönlichen Sachen nach dem Lauf. Immerhin liegen Start- und Zielpunkt weit auseinander, sodass der Veranstalter hier zusätzlichen Aufwand betreiben müssen. Auch das ist sehr gut gelungen.
Was den Streckenverlauf betrifft, so wurde beim Marathon 2021 wieder der klassische Kurs absolviert. Das ist insofern erwähnenswert, da im Vorjahr aufgrund der Coronabeschränkungen ein anderer Kurs gelaufen werden musste. Start- und Zielpunkt waren im letzten Jahr identisch, was in erster Linie der Tatsache Rechnung trug, dass so weniger freiwillige Helfer eingesetzt werden mussten.
Auch das Wetter spielte mit, denn am 7. November 2021 war der Himmel wolkenverhangen und es gelang der Sonne nicht, ihn zu durchbrechen. Die hohen Temperaturen des Vortags blieben daher aus, was das Laufen deutlich angenehmer machte, zumal es trotz der dichten Wolkendecke nicht regnete. Das Thermometer dürfte ca. 13 oder 14° Celsius angezeigt haben. Klasse Bedingungen also.
Der Start für die Läufer erfolgte pünktlich um 9 Uhr rund 250 m vor der Bosporusbrücke. In mehreren, schnell aufeinanderfolgenden Wellen begannen die Teilnehmer der jeweiligen Leistungskategorien ihr Rennen. Von nun an ist man allein, egal, wie viele Läufer bei so einem Event dabei sind. Ich erspare mir an dieser Stelle die Aufzählung der Sehenswürdigkeiten, an denen man bei welchem Kilometer vorbeiläuft. Einige Laufberichte vermitteln nämlich das Bild, man mache ein 42 km langes Sightrunning – dem ist nicht so. Zumindest nehme ich diese geschichtlichen und architektonischen Highlights kaum war und selbst wenn, dann nur mit dem Gedanken: „Bis hierhin ist es schon mal geschafft.“
Natürlich hatte es das Streckenprofil des Istanbulmarathons wieder in sich. Der Lauf gehört zwar zur sogenannten „Gold-Kategorie“ – einer Klassifizierung des Leichtathletik-Weltverbandes – aber Weltrekorde werden hier mit Sicherheit nicht gelaufen. Dazu geht es zu stark hoch und runter. Wenn ich mir meine aufgezeichneten Laufdaten ansehe, vermeldet die Garmin-App einen Gesamtanstieg von 430 m bei einer minimalen Höhe von minus sechs Metern und einer maximalen Höhe von 101 Metern. Die minimale Höhe von minus sechs Metern könnte z.B. am Eurasientunnel gemessen worden sein, denn dort läuft man unterhalb der Wasserlinie des Bosporus. Wieso also die App von Relive auf über 1.000 m Höhenunterschied kommt, entzieht sich meinem Verständnis. Aber das ist auch nicht wichtig. Fakt ist: die Bewältigung der Höhenunterschiede beim Istanbulmarathon ist eine echte Herausforderung. Selbst dann, wenn es kilometerlang am Bosporus entlanggeht. Dann sind die Anstiege zwar nicht steil, aber dafür elendig lang. Ab Kilometer 30 bekomme ich immer das Gefühl, sie enden nie, was sie natürlich doch irgendwann tun. Trotzdem ist es für den Hobbyläufer nicht einfach, den Energie- und Zeitverlust des Anstiegs bei den Abstiegen wieder wettzumachen. Man spürt irgendwann jede Muskelfaser, gerade in den Oberschenkeln, und wundert sich gleichzeitig, warum die Läufer vor und hinter einem nicht einfach davonziehen. Es geht ihnen genauso. Was allerdings sehr heftig und für mich überraschend kam, war der Zieleinlauf in Sultanahmet. An dieser Stelle hat man bereits über 40 km in den Beinen und plötzlich wird man von den Ordnungskräften scharf nach links verwiesen. Diese Hilfestellung ist natürlich korrekt, denn nach der bereits zurückgelegten Distanz bekommen einige Läufer tatsächlich nicht mehr mit, was um sie herum geschieht und würden wahrscheinlich weiter geradeaus trotten. Jedenfalls empfand ich im ersten Moment Glücksgefühle, als es in Richtung des Gülhaneparks ging. Ein letzter kleiner Anstieg, dachte ich und wurde schnell eines Besseren belehrt, denn nach der Durchquerung des kleinen Parks gab es nur noch eine Richtung: nach oben. Und es nahm kein Ende! An dieser Stelle wollte ich zum ersten Mal gehen, weil ich nicht mehr konnte. Ich wollte tatsächlich ins Ziel spazieren, habe es aber irgendwie geschafft, diesen Gedanken doch zu verscheuchen. Wahrscheinlich waren es die vielen Zuschauer, die mich (und alle anderen) weiter angetrieben haben. Ein kurzer Blick auf meine Laufuhr folgte und die Gewissheit, dass ich mit gerade einmal 8 km/h durchs Ziel laufen werde. Mehr war an diesem Anstieg einfach nicht mehr drin, und so schleppte ich meinen alten Kadaver irgendwie über die Ziellinie, begleitet und angetrieben vom Geschrei der zuschauenden Meute. Immerhin war ich dafür am richtigen Ort – nämlich dem historischen Byzanz.