Die nächsten Kilometer sind im Grunde genommen flach und ich bewältige sie mit 5:05 knapp oberhalb meiner geplanten Zeit. Fünf Sekunden mehr pro Kilometer klingt nicht viel, aber kann ich das noch einmal rauslaufen? Meine Akkus sind nicht mehr halbvoll, sondern halbleer und ein leichter Anstieg, den ich auf den ersten 10 km gar nicht wahrgenommen habe, reicht, um mir das klarzumachen. Es geht also nur noch darum, die Distanz zu bewältigen und das Ganze in einer respektablen Zeit. Der Kurs des Berlin-Marathons geht mir durch den Kopf. Heute ist mir klargeworden, wie anspruchslos er war. Kein Wunder, denn in Berlin werden die Weltrekorde gelaufen. ‚Meine alte Duftmarke muss ich wenigstens knacken, sonst war das Training umsonst. Flachland hin oder her‘, denke ich und rechne im Kopf schon hoch, wie langsam meine Laufzeiten je Kilometer werden dürfen, um das noch zu schaffen. Rasch fixiert sich eine Zahl in meinem Kopf, die von jetzt an dominiert. Es ist die Sechs.
Doch kurz nach Kilometer 32 passiert es. Mitten im Lauf krampft mein linker Oberschenkel. Es sind nur 2 oder 3 Schritte, bei denen ich das wahrnehme und sofort anhalten muss, um Schlimmeres zu vermeiden. Automatisch greife ich dabei in meinen Laufgürtel, hole das letzte Tütchen Magnesiumgranulat heraus und reiße es auf. Das staubige Pulver klebt auf der Zunge, aber meine Notwasserreserve hilft, es herunterzuspülen. Einmal strecke ich das Bein, dann muss es weitergehen, aber von nun an läuft die Angst mit. ‚Versuch bloß nicht, noch einmal aufzudrehen‘, sage ich mir und schaue auf die Uhr. Es liegen noch 10 km vor mir, und wenn die eine Stunde dauern, dann ist es halt so. Meine aktuelle Zeit addiert um diese Stunde ergibt 3h:45min.
Während der folgenden Kilometer überholen mich zwar einige Läufer, aber an meiner Platzierung ändert das nicht, denn auch ich ziehe an anderen vorbei. Und das mit Zeiten, die zwischen 5:30 und 5:45 pro Kilometer liegen. Die Probleme der Überholten sind schnell auszumachen. Krämpfe und immer wieder Krämpfe. Zu einigen leidenden Körpern gehören leidende Gesichter, aber ich bin mir sicher, auch sie werden das Ziel rechtzeitig erreichen, um die begehrte Medaille zu ergattern, denn dafür muss man innerhalb von 6 Stunden ankommen.
Kilometer 37 hat noch einmal einen minimalen Anstieg, aber die 6:05 min, die ich dafür brauche sind nur noch Nebensache. Trotzdem kommt es mir vor, als ob die Restdistanz nicht kleiner wird. ‚Nur noch 5 Kilometer‘, denke ich und dabei fällt mir auf, wie ich schon seit geraumer Zeit alle 200 Meter auf die Uhr schaue, um mich davon zu überzeugen, dass die Geschwindigkeitsangabe noch mit einer 10 vor dem Komma beginnt. Sechs Minuten! Auch das ständige Sichvergewissern, wie weit die Ziellinie noch entfernt ist, nimmt allmählich gebetsmühlenartige Züge an. ‚Du schaffst es, den alten Kadaver noch bis dorthin zu schleppen‘, motiviere ich mich ständig, obwohl mir inzwischen selbst 4 Kilometer wie eine Weltreise vorkommen. Aber Zahlen lügen nicht und die bestätigen mir, ich bin auf Notfallkurs. Alles wird gut, wenn die Beine weiter mitspielen.
Genau das machen sie und meine Stimmung hellt sich auf, als ich die 40-km-Marke passiere. Meine Uhr verrät mir, dass ich seit exakt 3h:30min unterwegs bin, und sie verrät mir auch, dass ich aufgrund meiner eigenen Linienführung circa 150 m mehr absolvieren werde. Aber wer schafft es schon, immer exakt die Ideallinie zu treffen?
Voller Freude sehe ich die 42-km-Marke am Straßenrand. Auch das Ziel ist bereits seit einigen 100 Metern in Sicht. Ungewollt, aber scheinbar einem antrainierten Reflex folgend, lege ich noch einmal leicht an Geschwindigkeit zu. Erst später sehe ich, die letzten 370 m wurden mit 5:13 min/km absolviert. Es wird sich zeigen, dass mein Durchschnittstempo bei 5:15 min/km gelegen hat. Als ich den erlösenden Piepton beim Überqueren der blauen Matte höre, stoppe ich die Zeitmessung und schaue sofort auf meine Uhr. 3h:42min:8s für meine absolvierten 42,37 km. Ich bin zufrieden und glücklich, vermeide es aber, stehenzubleiben. Eine Erfahrung des Berlin-Marathons, bei dem das abrupte Stehenbleiben am Ende dazu führte, dass ich kaum noch gehen konnte. Deshalb gehe ich langsam und auf wackeligen Beinen in Richtung des Zeltes, in dem die Taschen der Läufer aufbewahrt werden. Aufgrund der Kennzeichnung mit unserer Startnummer wird sie mir schon entgegengehalten, als ich den Bereich betrete. „Wo gibt es die Medaille?“, frage ich und erfahre, dass sich das begehrte Stück Metall im Verpflegungsbeutel befinden soll, den jeder Sportler nach dieser Strapaze erhält. Die Ausgabe erfolgt zentral in einem eigens dafür aufgebauten Pavillon und die Volontäre streichen zur Markierung der Ausgabe unsere Startnummer auf der Brust durch.
Ich hole sofort die Medaille heraus und krame mein Smartphone aus der anderen Tasche. Dann bitte ich eine Volontärin, dieses Foto von mir zu machen.
Anschließend spaziere ich langsam zur Metrostation Yenikapi. Ich spüre jeden Beinmuskel, aber es sind weniger Schmerzen, sondern vielmehr die Erkenntnis: ich lebe noch. Es ist 13 Uhr und deshalb rufe ich Dr. Lippmann an. Schließlich sind wir in Yenikapi verabredet. „Geschafft?“, fragt er nur. „Geschafft“, erwidere ich und sage ihm, dass ich in 5 Minuten am Treffpunkt bin. Er meint, er bräuchte 10 Minuten länger und das höre ich gern. Zehn Minuten für mich und damit genügend Zeit, mir die erste Zigarette nach dem Lauf zu gönnen.
Mein Fazit: Ich muss den Organisatoren ein großes Kompliment machen. Das Event war sehr gut organisiert, das Preis-Leistungsverhältnis der Startgebühr i.H.v. 50 € war äußerst günstig im Verhältnis zum Inhalts der Tasche und des Verpflegungsbeutels. Ein Laufshirt vom Istanbul-Marathon inklusive. Da kann sich Berlin ’ne Scheibe abschneiden. Der Kurs war hart, und die 714 absolvierten Höhenmeter sprechen da ihre ganz eigene Sprache. Ende gut, alles gut. Nur das Wort HES-Code kann ich nicht mehr hören, ohne getriggert zu werden.