Pünktlich um 9 Uhr sind alle Läufer der Kategorien A und B am Start. Gelbe Punkte auf dem Asphalt markieren die Wartepunkte und alle paar Sekunden rückt der Tross eineinhalb Meter nach vorn. Ein Starter gibt jeder Reihe á 4 Läufern ein Signal, doch das sehe ich erst, als ich nahe genug an die Startlinie herankomme. Dann ist unsere Reihe dran. Drei, zwei, eins und ab geht die Post. Im gewohnten Trainingstempo setze ich mich in Bewegung und es gelingt mir, die breite Straße entlang des Bosporus, die Reflexionen des Sonnenlichts auf dem Wasser und die Atmosphäre aufzusaugen. Es ist totaler Luxus, so viel Platz zu haben und automatisch schweifen meine Gedanken zum Berlin-Marathon 2018. Startblock H und zigtausend Leute vor mir, die im Gedränge überholt werden mussten.
Auf dem ersten Kilometer rücke ich noch die eine oder andere Kleinigkeit an und in meinem Laufgürtel zurecht und dann genieße ich die freie Fahrt über den Asphalt. Meine Uhr vibriert, der erste Kilometer ist geschafft. 4:51 und damit etwas schneller als geplant, aber das macht nichts, denn die Füße tragen mich wie von selbst. So geht es immer weiter und jedes vibrieren lässt mich kurz auf die Uhr schauen. 4:44, 4:40, 4:45 usw. Die ersten zehn Kilometer sind fast geschafft, als der Kurs leicht links abbiegt und ich die riesige Wand vor mir sehe. ‚Ach du Scheiße‘, geht mir durch den Kopf, dann laufe ich über die blaue Matte, die meine 10-km-Zeit erfasst. Ich registriere den kurzen Piep, auch die Vibration meiner Uhr, die mir anzeigt, nach den ersten 10 km auf Plan zu sein. 47:45. Mir ist schon jetzt klar, das wird nach dem weiteren Kilometer nicht mehr der Fall sein.
Die riesige Wand ist der Barbaros Boulevard, eine Straße, die nur eine Richtung kennt: steil nach oben. Meine Garmin-App verrät mir Stunden später, es ging 100 m in die Höhe, aber das weiß ich jetzt noch nicht und versuche erst einmal, diese erste Hürde zu meistern. Bereits nach wenigen hundert Metern ist mir klar, der bisher erlaufene Zeitpuffer von über zwei Minuten wird auf diesem Kilometer aufgebraucht sein. Ich benötige für Kilometer 11 fast sieben Minuten. Und der Anstieg ist noch nicht zu Ende. Es geht rund 300 m weiter nach oben. Dann flacht der Kurs endlich ab und schließlich geht es wieder nach unten. Ich nehme erneut Fahrt auf und Kilometer 13 dauert nur 4:33 min. ‚Vielleicht kann ich die verlorene Zeit wieder reinholen‘, hoffe ich, aber die nächsten Anstiege folgen und bereits der 14. Kilometer fordert alles. Ich befinde mich inzwischen auf der Bosporusbrücke und auch hier zeigt mir Garmin später an, es ging wieder auf 107 m rauf. Der Plan der Veranstalter geht mir durch den Kopf. Hier wurde angezeigt, es ginge beim Kurs des Jahrs 2020 (der coronabedingt erst vor wenigen Tagen geändert wurde) rund 3 km Laufstrecke nach oben und ca. 3,5 km nach unten. Also insgesamt 6,5 km Berg- und Talbahn. Die Vorjahre wiesen für die Gesamtdistanz dieser Berg- und Talbahn nur 4,5 km auf und die verteilten sich fast ausschließlich auf den Anfang und das Ende der 42,195 km. Die 2 km Unterschied und die Lage der Anstiege inmitten der Gesamtdistanz machen den Kohl nicht fett, könnte man meinen, aber die Dynamik des aktuellen Kurses ändert sich enorm. Ich bin ein Flachlandläufer, weil im Spreewald die Anzahl der Berge sehr überschaubar ist, und insofern bin ich auf diese kurzfristige Änderung des Streckenverlaufs nicht wirklich vorbereitet. Bei der Planung war ich davon ausgegangen, dass die Regenerationsphasen und das Zeitpolster zwischen den Anstiegen am Anfang und am Ende lang genug sein würden. Aber hätte hätte Fahrradkette. Ich muss jetzt hier durch und aufgeben ist keine Option. Also quäle ich mich über die Bosporusbrücke zum Wendepunkt auf der asiatischen Seite und natürlich geht es wieder bergauf. Meine Laufzeiten für die Kilometer 16 und 17 sind mit 5:35 und 5:24 dementsprechend beschaulich.
Doch dann nimmt das Rennen wieder etwas an Fahrt auf, denn nach dem Anstieg muss es auch wieder runtergehen. Die nächsten 3 Kilometer bin ich flott unterwegs, meine Zeiten wieder deutlich unter 5 min/km. Die 4:33 von Kilometer 19 lassen mich sogar etwas hoffen. Mein Plan sah nämlich vor, die mitgeführten vier Energie-Gels jeweils bei Kilometer 10, 20, 30 und 35 zu verzehren. Nach den 4:33 des letzten Kilometers ist es soweit. Ich fingere die Packung aus dem Laufgürtel und drücke mir den süßen Inhalt in den Mund, denn die nächste Wasserstelle ist in Sicht. Auch Kilometer 20 laufe ich deutlich unter 5 Minuten und rechnerisch gibt es noch gute Chancen, die dreieinhalb Stunden als Zeitvorgabe zu halten. Doch dann geht es wieder nach oben und an der Marke der Halbmarathondistanz verrät mir die Uhr, es sind exakt 1h:45min vergangen.
Der nächste Kilometer läuft wieder im geplanten Tempo von unter 5 Minuten und ich weiß ja, was bald auf mich zukommt. Der Barbaros Boulevard – nur diesmal von der anderen Seite aus und nicht ganz so stark ansteigend wie auf der Hintour. Schnell schlucke ich das zweite Tütchen Magnesium. Das erste hatte ich bereits aus Vorsicht nach dem 11. Kilometer geschluckt. Jetzt habe ich nur noch eines dabei und kann nur hoffen, aber Krämpfe sind bis hierher ausgeblieben.
Kilometer 23 ist mit knapp unter 6min/km erwartungsgemäß langsam, weil der Anstieg entsprechend hoch. Das Plateau ist erreicht und ich nehme noch einmal Fahrt auf. Doch dann kommt das Gefälle des berüchtigten Boulevards. Es wird mit 4:32 mein schnellster Kilometer sein, aber er läuft sich trotzdem schwer, denn die Stauchungen in Füßen und Knien sind mit jedem Schritt zu spüren. Und dieser schnellste Kilometer ist auch der letzte unter 5 Minuten. Von jetzt an gibt es nur noch Qualen … [weiterlesen]