Am Sonntag, dem 8. November 2020 ist es soweit. Mein Wecker klingelt um 5:30 Uhr, und obwohl ich nur wenig geschlafen habe springe ich regelrecht aus dem Bett. Es ist noch Zeit, denn ich muss erst in einer Stunde los. Trotzdem gehe ich sofort ans Fenster und sehe nach Draußen. Es ist trocken und das hebt meine Stimmung. In den letzten Tagen hatte es viel geregnet und das, obwohl die Wettervorhersage ab Freitagnachmittag etwas Anderes prophezeit hatte. Meine Horrorvorstellung war ein Marathon im Regen. Doch heute scheint die Prophezeiung wahr zu werden.
Von meiner Unterkunft im Stadtteil Üsküdar nach Yenikapi – dem Start- und Zielbereich – ist es nicht weit. Entspannt trinke ich einen Kaffee und ziehe meine Sportsachen an. Immer wieder geht mein Blick auf die Uhr. Habe ich noch irgendetwas vergessen? Dann höre ich den Wecker im Schlafzimmer meines Gastgebers klingeln. Es ist 6:15 Uhr. Er hatte ihn nur zur Sicherheit gestellt, falls ich verschlafen sollte. Schnell noch das Foto vor dem Lauf geschossen, dann gehe ich los.
Die Stadt liegt noch im Dunkeln und ich spaziere entspannt zur Metrostation Üsküdar, die direkt am Bosporus liegt. Von hier aus sind es nur zwei Stationen bis Yenikapi, die Fahrt dauert also nicht sehr lange. Als ich die Metrostation verlasse ist es immer noch dunkel, aber die ersten Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg. ‚Wo muss ich jetzt lang?‘, denke ich, aber die Antwort ist schon gut sichtbar auszumachen. Freiwillige Helfer stehen in orangefarbenen Jacken und mit blauen Perücken auf dem Platz, um den Teilnehmern den Weg zum Eingangsbereich zu weisen.
Der Fußmarsch dauert etwa fünf Minuten, dann kann ich bereits das aufgeschlagene Zeltlager sehen. Es ist 7:30 Uhr und meine innere Spannung steigt. Zuversichtlich betrete ich den Eingangsbereich, wo die Teilnehmer der Reihe nach die Kontrolle passieren müssen und hier stellt man mir die alles entscheidende Frage. „Wo ist Ihr HES-Code?“ Ich antworte, dass ich keinen HES-Code habe, dafür jedoch einen aktuellen Corona-Test (genau wie es am Freitag bei der Startnummernausgabe besprochen worden war) und hole das Papier aus meiner Tasche. Der Kontrolleur in der orangefarbenen Jacke – das Schild an seiner Jacke weist ihn als Volontär aus – ist verunsichert. Ich sehe es ihm deutlich an. „HES-Code“, wiederholt er einfach nur. „HES-Code yok“, erwidere ich und halte im das Testergebnis vor die Nase. Es ist negativ, aber das ist momentan unwichtig. Der arme Kerl schaut sich hilfesuchend um. Dann sieht er eine junge Frau, die eine blaue Jacke trägt. Ihr Namensschild stellt sie als Supervisor vor. Auch eine freiwillige Helferin, aber ranghöher als er. Ich versuche ihr zu erklären, warum ich mit einem Corona-Test hier bin, aber das interessiert sie nicht. Der Test sei zu alt, meint sie nur. „Wie bitte?“ Der Test ist Freitag um 17 Uhr durchgeführt worden und jetzt ist es Sonntagmorgen um acht. Ich befürchte bereits schlimmstes, denn für die Supervisorin ist die Angelegenheit scheinbar erledigt. ‚Hoffentlich ist er nicht wieder schlafen gegangen‘, denke ich nur und rufe bei Dr. Lippmann an. Nach einem Klingelzeichen ist er dran. „Was gibt’s?“, meint er nur. Ich erkläre ihm die Situation und überreiche das Telefon dem Volontär. Ab jetzt bin ich nur noch Zuschauer … [weiterlesen]